Krankheitsängste verstehen: Hypochondrie, somatoforme Störungen und Panikstörung – Was ist was?
Von Dr. Eva Brunegger, Ärztin für psychosomatische Medizin | Letzte Aktualisierung: November 2025
„Bin ich wirklich krank oder nur verrückt?“ Diese Frage stellen sich täglich tausende Menschen in Österreich. Als Ärztin für psychosomatische Medizin höre ich sie fast jeden Tag. Die gute Nachricht: Du bist weder verrückt noch eingebildet krank. Die noch bessere Nachricht: Krankheitsängste lassen sich sehr gut behandeln – wenn man die richtige Diagnose hat und den passenden Behandlungsweg einschlägt.
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Was sind Krankheitsängste überhaupt?
Krankheitsängste sind weit verbreiteter als du denkst: Etwa 15% der Bevölkerung erleben sie in irgendeiner Form. Doch nicht jede Sorge um die Gesundheit ist gleich eine behandlungsbedürftige Störung.
Der entscheidende Unterschied:
- Normal: Gelegentliche Sorgen bei Symptomen, die durch ärztliche Untersuchung beruhigt werden
- Krankhaft: Anhaltende, übermäßige Ängste, die deinen Alltag beeinträchtigen und trotz ärztlicher Beruhigung bestehen bleiben
Als Ärztin sehe ich drei Hauptformen von Krankheitsängsten, die oft verwechselt werden:
1. Hypochondrie – Die Angst vor der Krankheit
Was ist Hypochondrie medizinisch?
Hypochondrie (heute: Hypochondrische Störung) ist die anhaltende Angst, eine schwere Krankheit zu haben, obwohl keine medizinischen Befunde dafür sprechen.
Typische Symptome der Hypochondrie:
- Ständiges „Körperscanning“ – permanent auf Symptome achten
- Fehlinterpretation normaler Körpersignale – jeder Schmerz wird zur Katastrophe
- Arzt-Hopping – von Spezialist zu Spezialist, aber nie beruhigt
- Internet-Recherche verstärkt die Ängste („Dr. Google-Syndrom“)
- Sozialer Rückzug aus Angst vor Ansteckung oder Belastung
Bei hypochondrischen Beschwerden sind folgende therapeutische Ansätze relevant:
- Aufmerksamkeitslenkung weg von Körpersignalen
- Katastrophendenken hinterfragen lernen
- Kognitive Umstrukturierung
Beispiel aus meiner Praxis:
Maria, 34, kam bereits zum fünften Kardiologen innerhalb von sechs Monaten. Alle EKGs waren normal, aber sie spürte ihr Herz schlagen und war überzeugt, dass „die Ärzte etwas übersehen haben“. Sie googelte täglich Herzerkrankungen und interpretierte jeden Herzschlag als Warnsignal.
2. Somatoforme Störungen – Echte Symptome ohne körperliche Ursache
Was sind somatoforme Störungen?
Somatoforme Störungen bedeuten: Körperliche Beschwerden sind real vorhanden, aber medizinisch nicht durch eine Organerkrankung erklärbar. Die Symptome sind nicht eingebildet – sie werden tatsächlich gespürt und hängen oft mit erhöhter Anspannung im Körper zusammen.
Häufige somatoforme Symptome:
- Chronische Schmerzen (Rücken, Kopf, Bauch) ohne Befund
- Magen-Darm-Beschwerden – Übelkeit, Durchfall, Völlegefühl
- Herzbeschwerden – Herzrasen, Brustschmerzen bei normalem EKG
- Neurologische Symptome – Schwindel, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche
- Erschöpfung und Müdigkeit ohne erkennbare Ursache
Der Teufelskreis bei somatoformen Störungen:
Stress/Belastung → Körperliche Symptome → Angst vor Krankheit → Mehr Stress → Verstärkte Symptome
Bei somatoformen Störungen sind folgende therapeutische Ansätze relevant:
- Biopsychosoziales Stressmanagement
- Körper-Geist-Verbindung verstehen
- Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelentspannung
- Verbesserung der Körperwahrnehmung
Beispiel aus meiner Praxis:
Thomas, 42, hatte seit Monaten starke Rückenschmerzen. MRT, Röntgen, Blutbild – alles normal. Die Schmerzen waren trotzdem da und beeinträchtigten sein Leben massiv. Er war nicht hypochondrisch – er hatte nicht Angst vor einer Krankheit, sondern litt unter echten, spürbaren Beschwerden. In der Therapie lernte er, wie chronischer Arbeitsstress seine Rückenschmerzen verstärkte.
3. Panikstörung – Der Fehlalarm des Körpers
Was ist eine Panikstörung?
Bei einer Panikstörung entstehen körperliche Symptome durch Fehlalarm des Angstsystems. Dein Körper reagiert, als wäre eine lebensbedrohliche Situation da – obwohl keine Gefahr besteht.
Typische Panikattacken-Symptome:
- Herzrasen oder Herzstolpern
- Atemnot oder Erstickungsgefühle
- Schwindel oder Benommenheit
- Schwitzen, Zittern, Hitzewallungen
- Brustschmerzen oder Druck auf der Brust
- Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden
- Todesangst – „Ich sterbe gleich“
Das Besondere an Panikattacken:
- Kommen in Wellen (5-20 Minuten intensive Symptome)
- Entstehen oft „aus dem Nichts“
- Sind körperlich nicht gefährlich (auch wenn sie sich so anfühlen)
- Führen zur „Angst vor der Angst“
Bei Panikstörungen sind folgende therapeutische Ansätze zentral:
- Sofortmaßnahmen erlernen
- Den Teufelskreis der Angst verstehen
- Schrittweise Exposition gegenüber gefürchteten Situationen
- Atemtechniken und Entspannungsverfahren
Beispiel aus meiner Praxis:
Sarah, 28, hatte ihre erste Panikattacke im Supermarkt. Plötzlich Herzrasen, Atemnot, das Gefühl zu sterben. Im Krankenhaus war alles normal. Seitdem hatte sie Angst vor weiteren Attacken und mied Situationen, in denen die erste aufgetreten war. Das schränkte ihre Lebensqualität zunehmend ein.
Die wichtigsten Unterschiede auf einen Blick
| Aspekt | Hypochondrie | Somatoforme Störung | Panikstörung |
|---|---|---|---|
| Hauptproblem | Angst vor Krankheit | Körperliche Symptome ohne Ursache | Angst-Fehlalarm |
| Symptome | Meist wechselnd | Oft chronisch, gleich bleibend | Wellenförmig, intensiv |
| Ängste | "Ich habe eine schwere Krankheit" | "Was stimmt nicht mit mir?" | "Ich sterbe gleich" |
| Arztbesuche | Viele, zur Beruhigung | Viele, wegen Symptomen | Oft Notaufnahme während Attacke |
| Auslöser | Körpersignale | Chronischer Stress | Oft ohne erkennbaren Grund |
Wie unterscheide ich als Ärztin diese Störungen?
Die diagnostische Herangehensweise:
1. Ausführliche Anamnese
- Wie entstehen die Symptome? (plötzlich vs. schleichend)
- Wann treten sie auf? (bestimmte Situationen vs. dauerhaft)
- Wie ist der Verlauf? (Attacken vs. chronisch)
- Was sind die Hauptängste? (sterben vs. krank werden vs. Symptome haben)
2. Körperliche Untersuchung
- Organische Ursachen ausschließen – das ist unverzichtbar
- Aber: Nicht endlos untersuchen bei eindeutig psychischen Ursachen
- Transparenz: Patienten erklären, warum weitere Diagnostik nicht hilft
3. Psychosomatische Diagnostik
- Stressoren identifizieren – was belastet wirklich?
- Symptommuster verstehen – wann wird es schlimmer/besser?
- Bewältigungsstrategien erfragen – was hast du schon versucht?
Behandlung der verschiedenen Krankheitsängste
Hypochondrie – Den Fokus von der Angst weglenken
Bewährte Behandlungsansätze:
- Kognitive Verhaltenstherapie – Katastrophendenken hinterfragen
- Achtsamkeitsbasierte Ansätze – weniger auf Körpersignale fokussieren
- Expositionstherapie – schrittweise Konfrontation mit Ängsten
- Digitale Entgiftung – weniger Dr. Google
In der Therapie lernen Betroffene, wie sie ihre Aufmerksamkeit von Körpersignalen weg auf positive Aktivitäten lenken, und wie sie mit der „Was-wäre-wenn“-Spirale umgehen.
Somatoforme Störungen – Körper und Psyche zusammendenken
Ganzheitlicher Behandlungsansatz:
- Biopsychosoziales Stressmanagement – Stressoren reduzieren
- Körpertherapie – Verspannungen lösen, Körperwahrnehmung verbessern
- Entspannungsverfahren – PMR, Yoga, Meditation
- Bei Bedarf: Antidepressiva für chronische Schmerzen
In der Therapie wird vermittelt, wie Stress, Emotionen und körperliche Symptome zusammenhängen, und es werden Methoden für den Umgang mit chronischen Beschwerden trainiert.
Panikstörung – Den Fehlalarm korrigieren
Strukturierte Therapie in drei Phasen:
Phase 1: Sicherheit und Vertrauen zurückgewinnen
- Sofortmaßnahmen erlernen
- Panikattacken verstehen – „Es ist nur Angst, nicht gefährlich“
- Notfallplan für akute Situationen
Phase 2: Teufelskreis durchbrechen
- Konfrontationstherapie – schrittweise Annäherung an Auslöser
- Atemtechniken und Entspannung
- Katastrophendenken korrigieren
Phase 3: Rückfallprävention
- Langfristige Strategien für Stress und Belastung
- ACT-Techniken – psychische Flexibilität entwickeln
- Langfristige Stabilisierung
Selbsthilfe bei Krankheitsängsten – Was kannst du sofort tun?
Bei akuten Krankheitsängsten:
Die 5-4-3-2-1 Technik:
- 5 Dinge sehen – schaue bewusst um dich
- 4 Dinge hören – Geräusche wahrnehmen
- 3 Dinge fühlen – Oberflächen berühren
- 2 Dinge riechen – bewusst einatmen oder schmecken – ein Bonbon oder Wasser
- 1 Ding, das du an dir magst 🙂
Atemtechnik 4-6-8:
- 4 Sekunden einatmen
- 6 Sekunden Atem anhalten
- 8 Sekunden ausatmen
- 5-mal wiederholen
Langfristige Strategien:
„Dr. Google“ Diät:
- Symptome nicht googeln – informiere dich bei seriösen Quellen
- Zeitbegrenzung – maximal 10 Minuten Gesundheitsrecherche täglich
- Vertrauensvolle Hausärztin finden und bei ihr bleiben
Körperwahrnehmung trainieren:
- Progressive Muskelentspannung – Verspannungen bewusst lösen
- Yoga oder Meditation – den Körper positiv erleben
- Sport – positive Körpererfahrungen sammeln
Wann solltest du professionelle Hilfe suchen?
Klare Signale für therapeutische Unterstützung:
- Häufige Arztbesuche ohne klare Diagnose
- Vermeidungsverhalten schränkt deinen Alltag ein
- Beziehungen leiden unter deinen Gesundheitsängsten
- Schlafstörungen durch nächtliche Symptomsorgen
- Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheitsängsten
- Suchtmittelgebrauch zur Angstbewältigung
Erste Schritte zur professionellen Hilfe:
Hausärztliche Untersuchung
Lass dich einmalig gründlich untersuchen – aber nicht endlos. Eine vertrauensvolle Hausärztin kann organische Ursachen ausschließen und dich bei psychosomatischen Ursachen kompetent begleiten.
Psychosomatische Behandlung
Krankheitsängste sind eine Spezialität der psychosomatischen Medizin. Hier findest du Ärztinnen, die sowohl die körperliche als auch die psychische Ebene verstehen. www.arztgraz.at
Häufige Fragen zu Krankheitsängsten
„Kann ich von Krankheitsängsten wieder ganz gesund werden?“
Ja, definitiv! Krankheitsängste sind gut behandelbar. Mit strukturierter psychotherapeutischer Behandlung erreichen die meisten Patienten deutliche Verbesserungen. Der Schlüssel ist die richtige Diagnose und ein strukturiertes Vorgehen.
„Wie lange dauert die Behandlung?“
Das hängt von der Art deiner Krankheitsangst ab:
- Panikstörung: Oft schon nach 3-6 Monaten deutliche Besserung
- Hypochondrie: 6-12 Monate für nachhaltige Veränderung
- Somatoforme Störungen: Manchmal länger, da oft chronische Stressoren beteiligt sind
„Brauche ich Medikamente?“
Nicht unbedingt. Bei Krankheitsängsten ist Psychotherapie meist die erste Wahl. Medikamente können vorübergehend unterstützen, besonders bei schweren Panikattacken oder chronischen Schmerzen.
„Ist das alles nur ‚Psycho‘?“
Nein! Deine Symptome sind real und berechtigt. Psychosomatisch bedeutet nicht „eingebildet“, sondern dass Körper und Psyche zusammenwirken. Das ist normale Medizin, nicht „Alternativmedizin“.
Was können Angehörige tun?
Angehörige können unterstützen, indem sie:
- Nicht bagatellisieren – „Das ist nur Einbildung“ hilft nicht
- Nicht endlos beruhigen – das verstärkt oft die Angst
- Professionelle Hilfe unterstützen
- Selbst auf ihre Grenzen achten – Co-Abhängigkeit vermeiden
Dieser Artikel dient der Information und ersetzt keine ärztliche Diagnose oder Behandlung. Bei anhaltenden Beschwerden wende dich bitte an eine Ärztin oder einen Arzt.